Dienstag, 29. Mai 2007

Der funktionale Tod

Den Vorwurf, der Darwinismus nehme sehr oft quasi-religiöse Züge an, hört man immer wieder, und das nicht nur von Evolutionskritikern. So schrieb der Wissenschaftsphilosoph Michael Ruse:

"Evolution is promoted by its practitioners as more than mere science. Evolution is promulgated as an ideology, a secular religion—a full-fledged alternative to Christianity, with meaning and morality. I am an ardent evolutionist and an ex-Christian, but I must admit that in this one complaint—and Mr [sic] Gish is but one of many to make it—the literalists are absolutely right. Evolution is a religion. This was true of evolution in the beginning, and it is true of evolution still today."1)
Der Religionssoziolge Franz-Xaver Kaufmann hat sechs Grundfunktionen von Religion herausgearbeitet: "(1) Identitätsstiftung, (2) Handlungsführung, (3) Kontingenzbewältigung, (4) Sozialintegration, (5) Kosmisierung, (6) Weltdistanzierung.“

Allerdings stellt er auch fest:

„Heute gibt es offenkundig keine Instanz und keinen zentralen Ideenkomplex, die im Stande wären, all diese sechs Funktionen in einer für die Mehrzahl der Zeitgenossen plausiblen Weise zugleich zu erfüllen. Wir müssen von der Annahme ausgehen, daß entsprechend der allgemeinen Funktionsdifferenzierung die auf die genannten Probleme gerichteten Leistungen heute von verschiedenen Instanzen erbracht werden. Vieles spricht dafür, daß diese Funktionen heute zumindest teilweise auch von Institutionen erfüllt werden, die im landläufigen Sinne nicht als religiös gelten. [...] Auf der Ebene des Vergleichs einzelner Funktionen scheint somit der Unterschied zwischen religiösen und nichtreligiösen Phänomenen weitgehend
eingeebnet."2)
Zur Kontingenzbewältigung kann man verkürzt sagen: Religion stellt einen Erklärungsrahmen zur Verfügung, durch den an sich Inakzeptables akzeptabel wird – Dinge, bei denen man nur die Wahl zwischen Anerkennung oder Verzweiflung hat: Krankheiten, Naturkatastrophen, Verbrechen, Tod. Viele Philosophen sahen und sehen in der psychologischen Bewältigung des Todes denn auch die primäre Motivation für Religion überhaupt – Religion als infantiler Verdrängungsmechanismus für das Menschheitstrauma schlechthin.

Der Tod, also das ultimative Ende der eigenen Existenz, kann für jedes bewusst existierende Wesen eigentlich nur der absolute Super-GAU sein. Die Sinnlosigkeit an sich. Denn jegliche Sinngebung ist an kognitive Prozesse geknüpft; enden die individuellen kognitiven Prozesse – was beim Tod unvermeidbar der Fall ist – wird damit auch jegliche individuelle Sinngebung hinfällig. Ein Konstrukt, das dem Tod eine tröstliche Sinnhaftigkeit zubilligt, muss deshalb über den Horizont des einzelnen Individuums weit hinausgehen.

Die meisten Religionen verweisen dazu auf eine übernatürliche Sphäre. Die materiellen Vorgänge im Gehirn allein seien nicht das, was unsere Existenz als selbstbewusste Wesen ausmache. Deshalb könne der Funktionsausfall der materiellen Komponenten eines Individuums auch nicht seine komplette Nichtexistenz herbeiführen.

In den Haupt-Ausprägungen der drei großen monotheistischen, abrahamitischen Religionen wird der Tod des physischen Leibes daher als Transit eines vorübergehenden Zustandes in einen ursprünglichen Zustand gesehen. Der Tod hat eine Funktion, damit einen Sinn, und damit etwas akzeptables, tröstliches. Obwohl diese Thematik im christlichen Weltbild etwas komplexer ist, sei hier beispielhaft das Gleichnis aus 1. Korinther 15:36 genannt: Das Weizenkorn als solches muss sterben, um eine Weizenpflanze hervorbringen zu können.

In atheistischen Religionen wie dem Buddhismus hat der Tod (der physischen Manifestation) eines Individuums die Funktion, das Individuum, bzw. gewisse mentale Kräfte desselben einer geistigen Läuterung zu unterziehen, der Befreiung vom Karma.

In dieser postulierten Funktionalität des für das Individuum eigentlich völlig sinnlosen Todes zeigt sich eine grundlegende Gemeinsamkeit des Darwinschen Evolutionsgedankens mit den meisten Religionen. Die so genannte natürliche Auslese selektiert weniger „fittere“ Lebewesen aus, sondern eliminiert eher alle „nicht fitten“ Lebewesen, zum Wohle der fitteren. Der Sensenmann ist also auch hier weniger eine absolut destruktive, sinnfreie, willkürliche Realität, sondern vielmehr ein notwendiger, rational begründbarer Geburtshelfer unserer eigenen Existenz. Sozusagen in der Funktion der Eliminierung von „Nicht-Fitness“, oder – wenn man so will – materiellen Karmas.

1) Ruse, M., How evolution became a religion: creationists correct? National Post, pp. B1,B3,B7 May 13, 2000.
2) Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen.

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