

"Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt."
(Rilke, 1904)
Fritz Poppenberg, der Berliner Filmemacher, der sich mit evolutionskritischen Filmen wie „Gott würfelt nicht“ angeblich eine goldene Nase verdient, widmet sich in seinem neusten Film dem Thema Abtreibung.* In „Maria und ihre Kinder“ geht es um eine sogenannte Gehsteigberaterin, die versucht, Frauen vom Gang in die Abtreibungsklinik abzuhalten und auf diese Weise schon mehrere hundert Kinder vor dem Tod bewahren konnte.
Die legale Tötung der eigenen Leibesfrucht ist eines der „Menschenrechte“, die – wie Vertreter eines evolutionären Humanismus gern betonen – gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft wurde. Oft mit Ausnahmesituationen wie Lebensgefahr für die Mutter oder Vergewaltigung begründet, sterben in der Praxis ungezählte Kinder aus rein wirtschaftlichen Erwägungen. Heute geht die Kritik an der alltäglichen Abtreibungspraktik vor allen von katholischen Kreisen aus. In der Kontroverse um Abtreibung spiegeln sich Ansichten über Leben an sich wider – wann beginnt Leben, ab wann hat es einen Wert, hat es überhaupt einen grundsätzlichen, einfach gegebenen Wert, der sich nicht gegen andere Leben aufrechnen lässt, etc.
Die Fronten erscheinen so, dass Kritik an Abtreibung vor allen von Gläubigen ausgeht, während „aufgeklärte“ Geister sie als Frauenrecht oder zumindest notwendiges Übel sehen.
Doch – dumm gefragt – muss man wirklich ein gläubiger Mensch oder gar Christ sein, um die staatlich subventionierte und massenhaft betriebene Entsorgung von „Schwangerschaftsgewebe“ abzulehnen? Als jemand, der selbst eine zeitlang Agnostiker war, bezweifle ich das.
Eine Ablehnung von Abtreibungen lässt sich auch ohne religiösen Bezugnahmen begründen. Richard Dawkins, einer der Wortführer der 'neuen Atheisten', sagt in der von ihm produzierten, zweiteiligen Dokumentation „The Root of all Evil?“ gegen Ende:
„We are going to die, and that makes us the lucky ones. Most people are never going to die, because they are never going to be born. The number of people who could be here in my place outnumbers the sand grains of Sahara. If you think about all the different ways our genes could be permuted, you and I are quite grotesquely lucky to be here: the number of events that had to happen in order for you to exist, in order for me to exist. We are privileged to be alive and we should make the most of our time on this world.“**
Praktisch also ein Plädoyer für das Leben, und eine Begründung seines Wertes aus der absolut einmaligen und unwiederholbaren Verkettung der Umstände seiner Entstehung. Die zahllosen „ways our genes could be permuted“ sind aber mit dem Vorgang der Befruchtung der Eizelle besiegelt; ab diesen Moment hat das neubegonnene Leben seinen einmaligen Wert, ist „privileged to be alive“.
Es könnten also rein theoretisch genauso gut Atheisten vom Schlage eines Richard Dawkins sein, die sich aus reinem Idealismus Tag für Tag vor Abtreibungskliniken stellen und Müttern und Vätern die Hilfe anbieten, die sie benötigen, um ihren Kindern das Privileg des Lebens zu gönnen.*** Sind es aber nicht. Welche Hoffnung besteht eigentlich angesichts dessen, dass ein „evolutionärer Humanismus“ sich nicht nur an den pragmatischen Bedürfnissen einer meinungsfähigen Mehrheit orientiert?
Uraufführung von „Maria und ihre Kinder“ am 22. September um 19 Uhr in der Urania Berlin. Näheres unter www.dreilindenfilm.de . (Trailer zum Film auf TooCrazyFilms)
* Vermutlich wurden Poppenberg die enormen Einnahmen aus seinen evolutionskritischen Filmen mittlerweile schon selbst unheimlich, dass er sich jetzt einem anderen Thema zuwendet. Oder die Geldspeicher sind so voll, dass kein Kopfsprung in die Münzen mehr möglich ist. (Im Ernst: Wäre Kreationismus ein so florierendes Business wie Abtreibung, könnten sich Kutschera und Co. warm anziehen.)
** "The Root of all Evil? - Teil 1" auf Google Video
"The Root of all Evil? - Teil 2" auf Google Video
*** Praktisch alle Frauen, die sich durch eine derartige Gehsteigberatung für ihr Kind entschieden haben, sind dankbar und glücklich über diese Entscheidung. Das wirft ein interessantes Licht auf den so oft beschworenen Rechtekonflikt Frau versus Kind.
Mutation: it is the key to our evolution. It has enabled us to evolve from a single-celled organism into the dominant species on the planet. This process is slow, and normally taking thousands and thousands of years. But every few hundred millennia, evolution leaps forward.Mit diesen bedeutungsschwangeren Worten beginnt das 2000er Action-Comic-Spektakel „X-Men“. Die von Patrick Stewart vorgetragene Einleitung könnte aber gleichzeitig als das Credo für das gelten, was Comics-Fans als die Silberne Ära bezeichnen. Nachdem die Goldene Ära von Superman, Batman und Captain America mit dem Zweiten Weltkrieg zuende ging, erlebten die bunt kostümierten Recken vor allem dank des Autoren Stan Lee in den Sechzigern eine Wiederauferstehung.
* Ursprünglich konnte Supi einfach nur meilenweit springen. Für Verfilmungen wurde das jedoch gegen ein Fliegen ausgetauscht, was zwar besser aussieht, evolutionstechnisch jedoch weniger Sinn ergibt.
** 1) Interessant sind in dem Punkt moderne Verfilmungen dieser Comics. Im 2002er Spider-Man beispielsweise ist die Spinne, deren Biss Parker verwandelt, nicht mehr durch Strahlung mutiert, sondern gezielt genmanipuliert. Praktisch wurde also Zufall als Erklärung gegen eine Art intelligent design ausgetauscht.
2) Tschernobyl ernüchterte zwar erst die Achtziger, im russischen „Chemiekombinat“ Majak ereignete sich jedoch bereits 1957 eine nukleare Havarie, die zwar nicht zuletzt dank sowjetischer Nachrichtenpolitik weniger bekannt ist, trotzdem jedoch weit mehr Schaden an Mensch und Umwelt anrichtete.
*** Da Krebs als Mutation von Genen gesehen wird, die für das Wachstum von Zellen verantwortlich sind, wäre ein solcher Hinweis auf Zigarettenschachteln selbst nach heutigem Verständnis nicht völlig abwegig.
"Evolution is promoted by its practitioners as more than mere science. Evolution is promulgated as an ideology, a secular religion—a full-fledged alternative to Christianity, with meaning and morality. I am an ardent evolutionist and an ex-Christian, but I must admit that in this one complaint—and Mr [sic] Gish is but one of many to make it—the literalists are absolutely right. Evolution is a religion. This was true of evolution in the beginning, and it is true of evolution still today."1)Der Religionssoziolge Franz-Xaver Kaufmann hat sechs Grundfunktionen von Religion herausgearbeitet: "(1) Identitätsstiftung, (2) Handlungsführung, (3) Kontingenzbewältigung, (4) Sozialintegration, (5) Kosmisierung, (6) Weltdistanzierung.“
„Heute gibt es offenkundig keine Instanz und keinen zentralen Ideenkomplex, die im Stande wären, all diese sechs Funktionen in einer für die Mehrzahl der Zeitgenossen plausiblen Weise zugleich zu erfüllen. Wir müssen von der Annahme ausgehen, daß entsprechend der allgemeinen Funktionsdifferenzierung die auf die genannten Probleme gerichteten Leistungen heute von verschiedenen Instanzen erbracht werden. Vieles spricht dafür, daß diese Funktionen heute zumindest teilweise auch von Institutionen erfüllt werden, die im landläufigen Sinne nicht als religiös gelten. [...] Auf der Ebene des Vergleichs einzelner Funktionen scheint somit der Unterschied zwischen religiösen und nichtreligiösen Phänomenen weitgehendZur Kontingenzbewältigung kann man verkürzt sagen: Religion stellt einen Erklärungsrahmen zur Verfügung, durch den an sich Inakzeptables akzeptabel wird – Dinge, bei denen man nur die Wahl zwischen Anerkennung oder Verzweiflung hat: Krankheiten, Naturkatastrophen, Verbrechen, Tod. Viele Philosophen sahen und sehen in der psychologischen Bewältigung des Todes denn auch die primäre Motivation für Religion überhaupt – Religion als infantiler Verdrängungsmechanismus für das Menschheitstrauma schlechthin.
eingeebnet."2)