Die aktuelle Ausgabe des Stern thematisiert den übermäßigen Fleischkonsum der Deutschen, beziehungsweise der meisten Menschen allgemein. Die moderne Massentierhaltung (ein schöner Euphemismus für ein gesellschaftlich sanktioniertes und im industriellen Maßstab betriebenes Zu-Tode-Foltern) ist dabei allerdings eher Nebensache. Die Umweltverschmutzung zieht da als Argument schon eher. Wenn die überzüchtete Masse der Todgeweihten mit ihren Abgasen schon die Atmosphäre erwärmt, kann man ja dann doch mal ein Steak weniger auf den Grill hauen. Die Titelschlagzeile "Esst weniger Fleisch!" hat auch nicht wirklich einen gesundheitlichen Hintergrund, die Quintessenz nach zehn Seiten ist eher, dass die Fleischindustrie wieder mehr Qualität produzieren soll. Aber immherin ist es ja schon mal ein Anfang...
Vielsagend ist schon der erste Satz: "Vorab an alle Vegetarier, Veganer und passionierten Salatverzehrer: Ohne Fleisch, tut uns leid, ohne Fleisch kein Mensch, kein Homo sapiens. Ohne Fleisch wären wir noch Affen." Was gleich die Freude bei den doofen Körnerfressern dämpfen soll, offenbart eigentlich die ultimative Rechtfertigung für Fleischkonsum jeder Form: Was uns zum Menschen machte, kann an sich nicht schlecht sein. Die Speiseplan-Erweiterung des Frühmenschen auf Fleisch soll innerhalb einer Million Jahren eine Verdreifachung des Hirnvolumens bewirkt haben. Und da wir keine Reißzähne haben und uns vor rohem Fleisch auch eher ekeln, vor allem wenn es noch irgendwie an den früheren Besitzer erinnert, muss das Fleisch natürlich gegrillt, gekocht oder gebraten und ordentlich gewürzt sein.
Populärwissenschaftliche Texte mit evolutionsbiologischem Hintergrund heben dementsprechend auch regelmäßig nur positive Aspekte des Verzehrs unserer lieben Verwandten hervor. Im Focus-Artikel Das Geheimnis unseres Erfolges heißt es beispielsweise: "Das Fleisch – ein sehr kalorienreiches Nahrungsmittel, das zudem viele ungewöhnliche Fettsäuren enthält – ermöglichte es den Frühmenschen, größere Gehirne zu entwickeln." Da fragt man sich ernsthaft, warum die fleischverarbeitende Industrie nicht längst die Evolutionsbiologie für ihre PR entdeckt hat. Mal ehrlich, ein Werbespot mit diesem Satz, vielleicht noch mit einem Kind, das gerade herzhaft in sein Brot mit Bärchenwurst beißt... welche Eltern würden da nicht ein großes Stück Fleisch neben die Zuckerbomben mit der Extraportion Milch in den Einkaufswagen legen?
Auch ein schönes Beispiel ist Der kochende Affe aus dem Tagesspiegel: "Das Kochen lässt außerdem Gifte zerfallen, es tötet Krankheitserreger ab, es hat eine konservierende Wirkung, und es macht etliche Nahrungsmittel überhaupt erst genießbar." Dass Vitamine hitzeempfindlich sind und bei manchen Erhitzungsarten auch Gifte entstehen, wie Acrylamide oder PAK, wird nicht erwähnt. Kein Wort auch vom erwiesenen Zusammenhang zwischen vermehrten Konsum von rotem Fleisch und erhöhtem Krebs- und Herzinfarktrisiko. In dem Zusammenhang müsste man eigentlich auch annehmen, dass unsere Vorfahren, die während der harten und kargen Eiszeiten hauptsächlich auf Fleisch von Mammut und Co. zurückgreifen mussten, ein mindestens ähnliches Gesundheitsrisiko hatten. Man könnte natürlich argumentieren, dass sie gar nicht in das Alter kamen, in dem der Herzkasper zuschlägt, allerdings mutet es schon etwas seltsam an, das etwas, was das Individuum krank macht, auf die Gemeinschaft als Ganzes längerfristig positiv gewirkt haben soll, indem es die Intelligenz erhöhte.
Die Losung 'Fleisch machte uns zu Menschen' oder 'höherer Proteinkonsum = wachsendes Hirn = wachsende Intelligenz' hat aber auch andere seltsame logische Implikationen. Zum einen kann man sich fragen, ob eine rein quantitative Größenzunahme eines Organs tatsächlich automatisch einen entsprechenden Qualitätszuwachs bei der Funktion des Organs herbeiführt. Kurios ist in dem Zusammenhang auch, dass in populärwissenschaftlichen Darstellungen oft Ursache und Wirkung verwechselt werden, nach dem Motto 'Das wachsende Hirn brauchte Nährstoffe'. In einem Buch, das ich gerade lese, heißt es beispielsweise mit Bezug auf Balkenfasern, die beide Gehirnhälften verbinden: "[...] die Evolution [ließ] sich beim Homo sapiens etwas Neues einfallen [...] Da sie den Babykopf nicht noch weiter vergrößern konnte, kam es zu einer Aufgabenteilung zwischen den beiden Häften [...]" Wenn Evolutionsbiologen meinen, solche Zusammenhänge auch rein physisch-kausal erklären zu können, wenn sie nur wollten, dann muss man Wissenschaftsjournalisten wohl vorwerfen, dass sie das noch nicht einmal wollen...
Auch der Zusammenhang zwischen wachsendem Hirn und wachsender Intelligenz kann in Frage gestellt werden. Zum einen hatte Homo floresiensis mit einem Hirn von Schimpansengröße eine erstaunliche handwerkliche Begabung, und das noch vor maximal 100.000 bis 15.000 Jahren. (Was zum Teil damit erklärt wird, dass auch ein kleines Gehirn leistungsfähig sein soll, wenn die Neuronen entsprechend intensiv verknüpft sind. Wenn aber die Möglichkeit intensiverer Vernetzung als grundsätzliche Alternative zur Hirnvergrößerung besteht, dann fragt sich, wieso Mutter Natur die Hirne überhaupt wachsen ließ, wenn damit erhebliche Risiken bei der Geburt, etc. verbunden sind) Zum anderen hatten Neandertaler und Cro-Magnon-Mensch ein größeres Gehirn als der Jetztmensch (letzterer über 16 cm³ im Vergleich zu heutigen 12 bis 14 cm³) Außerdem scheint auch mit erheblich verringerter Hirngröße eine Intelligenz möglich, die deutlich über der von Primaten liegt, wie der Fall eines französischen Beamten zeigte, der seinen Alltag mit einem Zehntel Gehirn meistert.
Zudem zeigen Säugetiere, die Fleisch konsumieren, bisher keine Tendenz zu wachsendem Hirn bzw. Hirnleistung. Was im Focus-Artikel folgendermaßen kommentiert wird: "Das Fleisch war zwar notwendige Bedingung für das Wachstum des Gehirns und damit die Evolution des Menschen, es war aber nicht die Ursache, schließlich hätten sonst auch alle möglichen anderen Fleischfresser eine ähnliche Entwicklung durchmachen müssen. William Leonard führt die rasante Entwicklung auf viele Faktoren zurück, die sich gegenseitig verstärkten. Mehr Fleisch bedeutete eine Begünstigung des Gehirnwachstums, dadurch erweiterte sich die Lernfähigkeit, was wiederum ein komplexeres Sozialleben ermöglichte und die Entwicklung innovativerer Werkzeuge oder Jagdtechniken." (Wobei das die entscheidende Frage eigentlich nur verschiebt, denn warum zeigen sich dann eben diese verstärkenden Faktoren nicht bei anderen Fleischfressern?)
Wenn erst gekochte oder anderweitig erhitzte Nahrung die Hirn-Kraftnahrung sein soll, dann könnte man sich auch fragen, wie unsere Vorfahren überhaupt den Intelligenzstatus erreichten, der für entsprechende Zubereitungstechniken nötig ist. Immerhin gehört schon einiges dazu, ein Feuer zu machen oder Wasser aufzusetzen. Oder wenigstens das Fleisch von Aas zu zerschneiden oder Knochen aufzubrechen.
Davon abgesehen sollte eine entsprechende Wirkung bei rezenten Tieren eigentlich nachweisbar sein, wenn auch nur ansatzweise. Immerhin könnte man ja annehmen, dass der Mensch schon früh domestizierte Tiere mit durch Kochen "vorverdauter" Nahrung fütterte. Literatur zu entsprechenden Langzeitversuchen, Pflanzenfresser mit rohem oder hitzebehandeltem Fleisch, bzw. gekochter pflanzlicher Kost zu ernähren, habe ich leider nicht gefunden. Allerdings wird in entsprechenden Tierforen dringend davon abgeraten, pflanzenfressende Tiere mit Fleisch zu füttern...