Zu diesem Thema hat Josef Bordat einen Gastbeitrag verfasst, für den ich ihm sehr danke.
Josef Bordat
Darwinismus und Sozialstaat
Charles Darwin war - entgegen anderslautender Beteuerungen - „Sozialdarwinist“ (Bauer 2008: S. 16), weil er sein Prinzip der Evolution (Entwicklung als Ergebnis von Auswahl und Anpassungsleistung in einer Situation der Konkurrenz) auch auf die menschliche Gesellschaft übertrug. So schrieb er: „Wie jedes andere Tier, so ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz in Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt.“ (1871: S. 700). Nach dieser Beschreibung folgt die Forderung: „Und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muss er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben.“ (2005 [1871]: S. 700). Wie „jedes andere Tier“ muss sich der Mensch also im „Kampf“ gegen seinesgleichen behaupten, damit sich die Menschheit entwickeln kann.
Wie passt da der auf Solidarität ausgelegte Sozialstaat hinein? Äußerst schlecht, wie schon Darwin selbst feststellte. So kritisierte er ihn als gegen den Selektionsmechanismus gerichtetes Übel (2005 [1871]: S. 148), eine Einschätzung, die Richard Dawkins teilt (2004 [1976]: S. 198), auch wenn er stets beteuert, selbst nicht in einer Gesellschaft, die nach darwinistischen Spielregeln funktioniert, leben zu wollen, weil diese faschistisch sei (Die Presse, 30.7.2005; Frage: Wie kann sich eine Gesellschaft bloß von diesen Regeln befreien, wo ihre Mitglieder doch auf Gedeih und Verderb auf sie angewiesen sind? Sie sucht sich diese Regeln ja nicht aus, mehr noch: es gibt ja gar keine Alternative, wenn man - wie Dawkins - außerhalb der Evolution nichts für möglich hält, das normativ auf den Menschen durchschlagen könnte.).
Soweit die Biologen. Was machen die Wirtschaftswissenschaftler mit diesen Vorgaben? Sie nehmen sie dankbar auf, insbesondere dann, wenn ihnen als Berater des politischen Neoliberalismus’ der Sozialstaat sowieso ein Dorn im Auge ist. Der US-Ökonom Paul Krugmann, Wirtschafts-„Nobelpreis“träger 2008 und Liberalismus-Kritiker, schreibt, dass sich ein Lehrbuch der neoklassischen Mikroökonomie wie eine Einführung in die Mikrobiologie liest. Und der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Ewald Walterskirchen wies auf den engen Zusammenhang zwischen dem heutigen Neoliberalismus in der Wirtschaft und dem Neodarwinismus in der Biologie hin: „Beide Theorien gehen davon aus, dass nur zufällige Veränderungen/Anpassungen über Selektion bzw. Wettbewerb den Entwicklungsprozess bestimmen.“ (Der Standard, 16./17.7.2005). Das Evolutionsprinzip wird auf den Markt übertragen. Solidarität wird nur dann eingefordert, wenn die „falschen“ Marktteilnehmer vom Aussterben bedroht sind. Das ist nicht erst seit der „Bankenkrise“ so.
In der Ökonomie zeigt sich die Nähe zur Biologie besonders in den Arbeiten Friedrich von Hayeks, der als einer der Väter des Neoliberalismus gilt. Walterskirchen: „Hayek, Spross einer Biologenfamilie, spricht explizit von ,Aussiebung’ durch den Markt. Hayek hält etwa eine hohe Arbeitslosenquote - analog zum Wert des Populationsüberschusses in der Tierwelt - für ökonomisch wünschenswert, damit die natürliche Selektion optimal greifen kann.“ (Der Standard, 16./17.7.2005). Im Klartext: Den angepasstesten Arbeitnehmer gibt es unter den Bedingungen extrem vieler Mitkonkurrenten. Wenn der Selektionsdruck nur hoch genug ist, passt sich das „Arbeitnehmertier“ an jede sich bietende Nische an. Walterskirchen sieht durch diese Logik den Sozialstaat bedroht: „Die OECD, der Hort des Neoliberalismus, interpretiert die wirtschaftliche Krise in Europa einfach als mangelnde Anpassungsfähigkeit an Schocks - ganz ähnlich wie die Neodarwinisten das Aussterben von Tierarten. Die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen sind klar: Die Wirtschaftspolitik braucht nur die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit der Selektionsmechanismus Markt richtig greifen kann. Im Klartext läuft dies darauf hinaus, das europäische Sozialmodell abzuschaffen.“ (Der Standard, 16./17.7.2005).
An diesen fatalen Zusammenhang von Liberalismus und Darwinismus erinnerte Christoph Kardinal Schönborn, Erzbischof von Wien, im Rahmen einer Katechese unter dem Titel „Schöpfung und Evolution: Warum diese Debatte so wichtig ist“ (Die Tagespost, 5.8.2006), in der er die Bildung als weiteren Aspekt in die Debatte hineinträgt: „Ein Grundparadigma von Bildung heute ist die Anpassung unter dem Aspekt der Nützlichkeit - vor allem für den Arbeitsmarkt. Schlüsselkompetenzen wie Mobilität und Flexibilität sind hoch im Kurs, vergessen die Grundlinien katholischer Soziallehre: Die Wirtschaft ist für den Menschen da - nicht umgekehrt; vergessen zum Teil die Grundaufgabe von Schule und Bildung, auch zu Widerständigkeit zu erziehen und zu bilden.“ (Die Tagespost, 5.8.2006). Diese Widerständigkeit braucht es wohl, um dem „mörderischen darwinistischen Albtraum“, wie Woody Allan das Leben einmal nannte, einen Sinn abzuringen, und an Quellen der Normativität zu glauben, die außerhalb des Evolutionsmechanimus’ liegen.
Literaturnachweis:
Bauer (2008): Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus. Hamburg.
Darwin (2005 [1871]): Die Abstammung des Menschen. Paderborn.
Dawkins (2004 [1976]): Das egoistische Gen. Reinbek bei Hamburg.
Zum Autor:
Josef Bordat, geb. 1972, Studium des Wirtschaftsingenieurwesens (Dipl.-Ing.), der Soziologie und Philosophie (M.A.) in Berlin. Mitglied des Vorstands einer privaten Arbeitsvermittlung und Dozent. Promotion zum Dr. phil. Derzeit freier Publizist. Weitere Informationen: http://josefbordat.wordpress.com.